Die Welterklärer

Letztes Mal haben wir gesehen, dass es erstaunliche Parallelen zwischen der neoliberalen Ideologie und Religionen gibt, was nicht zuletzt daran liegt, dass Ideologien und Religionen keine rationalen Erkenntnissysteme sondern irrationale Glaubenssysteme sind. Nun benötigt jeder Kult seine Rituale. Während Gläubige Menschen ihre Gottesdienste haben, in denen ihnen die Welt erklärt wird, konsumieren überzeugte Wirtschaftsgläubige Börsennachrichten. Deren als „Analysen“ verkaufte Erklärungen bieten wieder erstaunliche Parallelen zu religiösen Weltauslegungen.

In vielen Religionen werden Ereignisse höheren Mächten zugeschrieben. Dinge, die geschehen, sind der Wille der Götter oder an wen auch immer man in der jeweiligen Religion glaubt. Häufig werden Ereignisse miteinander kombiniert. Geht z.B. eine Frau fremd, wird schwanger und erleidet eine Fehlgeburt, dann wird das als Strafe der Götter für das Fremdgehgen interpretiert. Gewinnt ein besonders frommer Gläubiger im Lotto (wenn denn die Religion Glückspiel erlaubt), so ist das die Belohnung der Götter für das fromme Leben. Aber auch „unfaire“ Ereigniskombinationen lassen sich immer begründen. Wird ein frommer Mensch mit Schicksalsschlägen konfrontiert, wollen die Götter ihn nur testen (wie z.B. Hiob). Andersherum gibt es für schlechte Menschen, denen es gut geht, immer noch ein Jenseits, in dem alles kompensiert wird. Es lässt sich also folgende Tabelle erstellen, in der alle möglichen Ereigniskombinationen religiös erklärt werden können. Damit können alle Ereignisse als Bestätigung der religiösen Weltsicht genutzt werden.

Guter Mensch Böser Mensch
Positives Ereignis die Götter belohnen ihn bekommt im Jenseits seine Strafe
Negatives Ereignis die Götter testen ihn die Götter bestrafen ihn

Nun glaubt der Neoliberalist ja nicht an Götter, sondern an Märkte, die aber die gleiche Funktion als transzendente Entität erfüllen, welche zwar nicht durchschaubar, aber prinzipiell wohlwollend ist. Der Wille der Märkte macht sich natürlich nicht in Alltagsereignissen bemerkbar, sondern in Preisen. Daher muss der fromme Neoliberalist diese permanent beobachten und versuchen, seine Schlüsse daraus zu ziehen. Wesentliche Preise sind dafür natürlich nicht Brot und Milch, sondern die Kurse der Aktien an den Börsen. Wer sich einmal Börsennews angetan hat, erkennt schnell, dass die Welterklärungsmuster denen einer religiösen Weltsicht ähneln. Man ersetze die Götter durch „die Märkte“ oder „die Anleger“ und schon kann man für einzelne Aktienunternehmen ein ähnliches Muster erstellen.

Macht das Unternehmen etwas tolles, wie z.B. ein großes Geschäft abschließen oder seine Gewinnaussichten erhöhen, und reagiert daraufhin der Aktienkurs mit einer Vergrößerung, so liegt es daran, dass „die Anleger“ erfreut sind. Macht das Unternehmen etwas tolles, aber der Aktienkurs fällt, so waren das Geschäft oder die Quartalszahlen zwar gut, aber nicht gut genug. Dann hat das Unternehmen die hohen Erwartungen der Anleger nicht erfüllt. Schlechte Ereignisse im Unternehmen lassen sich ebenfalls mit Erhöhungen oder Verringerungen des Aktienkurses kombinieren. Je nach Kombination ist es entweder so schlimm, dass die Anleger „enttäuscht“ sind, oder nicht so schlimm „wie erwartet“. Auch dies lässt sich in eine Tabelle fassen.

Positives Ereignis im Unternehmen Negatives Ereignis im Unternehmen
Aktienkurs steigt Anleger reagieren erfreut Ereignis ist nicht so schlimm wie erwartet
Aktienkurs fällt Ereignis ist nicht so gut wie erwartet Anleger reagieren enttäuscht

Mit dieser Tabelle kann man schon ziemlich viele Börsennachrichten selbst produzieren. Aber es geht natürlich noch ein bisschen komplizierter, damit dieser pseudowissenschaftliche Unsinn noch fachmännischer klingt. Die Aktienkurse verschiedener Einzelunternehmen werden an vielen Börsen zu Aktienindizes vermischt. In Deutschland ist der „wichtigste“ Index der Dax, der auf den 30 größten Aktienunternehmen in Deutschland basiert. Dieser wird gern als Indikator für den gesamtwirtschaftlichen Zustand unseres Landes genommen und spielt daher ebenfalls eine besondere Rolle. Der Dax wird meist gleichgesetzt mit der „Stimmung an den Märkten“. Sind die Märkte gut drauf, steigt der Dax, sind sie schlecht drauf, fällt der Dax.

Besonders findige Börseninterpreten kombinieren jetzt die Entwicklung eines einzelnen Unternehmens mit der Entwicklung des Dax. Dabei kann z.B. vorausgesetzt werden, dass das Unternehmen zum Dax beiträgt. Da sowohl der Aktienkurs des Unternehmens steigen und fallen kann und auch der Dax dieses tun kann, ergibt sich wieder eine Tabelle, mit der alle Ereignisse der Börse erklärt werden können.

Aktienkurs des Unternehmens steigt Aktienkurs des Unternehmens fällt
Dax steigt Unternehmen zieht den Dax nach oben Aktienkurs fällt nicht so schlimm wie erwartet, allgemeine Freude der Anleger
Dax fällt Aktienkurs steigt nicht so viel wie erwartet, allgemeine Enttäuschung der Anleger Unternehmen zieht den Dax nach unten

Man kann aber auch Ursache und Wirkung ändern. Statt zu behaupten, dass die Unternehmenskurse Auswirkungen auf den Dax haben, kann man auch unterstellen, der Dax habe Auswirkungen auf die einzelnen Unternehmenskurse. Das hat nichts damit zu tun, wie der Dax sich tatsächlich mathematisch berechnet, sondern funktioniert, weil wir in den Dax die „Stimmung am Markt“ hineininterpretieren. Diese abstrakte nicht messbare und nicht widerlegbare Größe kann immer so gedreht werden, dass die Erklärung passt. Mit der Annahme, der Dax sei Ursache für einzelne Unternehmenskurse sieht die Tabelle wie folgt aus.

Aktienkurs des Unternehmens steigt Aktienkurs des Unternehmens fällt
Dax steigt Unternehmen profitiert von der guten Stimmung am Markt positive Stimmung am Markt kommt nicht beim Unternehmen an
Dax fällt negative Stimmung am Markt kommt nicht beim Unternehmen an Unternehmen leidet unter der schlechten Stimmung am Markt

Jetzt haben wir genügend Tabellen um für beliebige Ereignisse an der Börse täglich mehrere Minuten Sendezeit mit allgemeinem Blabla über die Zustände an den Aktienmärkten zu füllen. Man muss sich vor Augen halten, dass das tägliche Auswerten der Aktienkurse der Kernbestandteil der meisten Wirtschaftsnachrichten ist. Mit Wirtschaftswissenschaft hat das natürlich alles nichts zu tun.

Aktienkurse sind für die reale Wirtschaft in Wirklichkeit von extrem untergeordneter Bedeutung. Der Aktienmarkt hat in einer Volkswirtschaft eine ganz klare Aufgabe. Er dient der branchenübergreifenden Verteilung von Kapital. Das funktioniert wie folgt. Ein Unternehmen möchte expandieren und benötigt dafür Geld für die Investitionen. Die hat es nicht, es braucht das Kapital von woanders. Dafür geht es an die Börse und emittiert Aktien. Die Aktienkäufer erhalten dafür Mitspracherecht bei dem Unternehmen. Das Unternehmen wiederum bekommt das Geld, das es benötigt. Da die Käufer der Akten von überall kommen, bekommt das Unternehmen so Geld, welches vorher an ganz anderen Stellen in der Wirtschaft herumschwirrte. Damit kann es Fabriken oder Kundendaten für seine Expansion kaufen. Der Aktienbesitzer wird in Form einer Dividende am Unternehmensgewinn beteiligt.

Schrumpft eine Branche, so kann ein Unternehmen z.B. Fabrikhallen oder Kundendaten verkaufen, und damit einen Teil der Aktien zurückkaufen, um so zukünftig an weniger Aktionäre Dividenden zahlen zu müssen. Das beim Aktienrückkauf ausgeschüttete Geld fließt dann in andere Branchen, wo es wieder investiert wird.

Nur bei diesen beiden Prozessen, beim der Emission von Aktien und beim Rückkauf von Aktien, findet eine branchenübergreifende Kapitalverteilung statt. Der volkswirtschaftliche Nutzen dieser Prozesse besteht darin, dass das Kapital aus Branchen, die nicht mehr produktiv sind, in Branchen fließen kann, die höhere Wertschöpfung betreiben und sich so der Gesamtwohlstand erhöht. Beide Ereignisse, Aktienemission und Aktienrückkauf, sind aber so selten, dass sich daraus keine täglichen Nachrichten mit Inhalt füllen lassen. Die Aktienkurse selbst werden im Wesentlichen dadurch bestimmt, dass ein Aktionär seine Aktien an einen anderen Aktionär verkauft, der dann zukünftig die Dividende kassieren darf. Der volkswirtschaftliche Nutzen dieses Handels ist null. Es findet dabei keine neue Kapitalallokation statt.

Hinzu kommt noch, dass Aktien oft gar nicht als Geldanlage für den Erhalt einer Dividende gehandelt werden, sondern als Spekulationsobjekt mit der Hoffnung, die Aktie zu einem höheren Preis nach kurzer Zeit wieder zu verkaufen. Das bedeutet für den Aktienpreis, dass dieser sowieso wenig Informationsgehalt enthält, da er im Wesentlichen durch spekulative Prognosen der Kursentwicklungen und nicht durch die Erwartung langfristiger Dividenden geprägt wird.

Wir können also festhalten, dass ein wesentlicher Teil der Wirtschaftsnachrichten sich mit Preisen beschäftigt, die keine Aussage haben, die bei einem Austausch von Dingen entstehen, der keinen volkswirtschaftlichen Nutzen hat, wobei Erklärungen geliefert werden, die keine sind. Wer des Öfteren mit Leuten konfrontiert ist, die sich mit wirtschaftlichen Themen beschäftigen, kann also deren Grad an Inkompetenz und Wirtschaftsfrömmigkeit daran erkennen, wie detailliert diese das tägliche Auf und Ab der Aktienkurse verfolgen.

4 Gedanken zu “Die Welterklärer

  1. Kann den Artikel gut nachvollziehen. Aber auch unsere faktenbasierende Welt ist begrenzt durch unsere Wahrnehmung. Menschen haben sich schon immer anhand der ihnen zur Verfügung stehenden Informationen ein Weltbild zusammengesponnen – „die Erde ist eine Scheibe“ oder „die Sonne dreht sich um die Erde“, etc.

    Leichte Kritik gibts für folgenden Satz:
    „Das beim Aktienrückkauf ausgeschüttete Geld fließt dann in andere Branchen, wo es wieder investiert wird.“

    Aktienrückkauf ist so ziemlich die sinnlosteste Form der Geldvernichtung, die es gibt. Zunächst muss keine AG Aktien zurückkaufen, um weniger Dividende zahlen zu müssen. Sie schüttet ganz einfach weniger oder eben gar nichts aus. Klar schmeckt das den Aktionären nicht, aber der Rückkauf dient hauptsächlich der Kurspflege. Es werden letztlich liquide Mittel durch eigene Anteile ersetzt, wobei diese gesondert bilanziert werden, da sie nunmehr eine „leere Hülle“ darstellen. Effektiv ist es für die Firma eine Kapitalherabsetzung.

    Zudem gibt es sicher keinen Automatismus, wie das „ausgeschüttete Geld“ wieder „in andere Branchen […] investiert“ würde. Das ist eine ganz normale Käufer/Verkäufer Transaktion, nur dass der Käufer danach bilanziell schlechter dasteht. Was der Verkäufer mit den frei gewordenen Geldern macht, steht völlig in den Sternen.

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  2. So verwundert es auch nicht, dass vier von fünf dieser sogenannten Börsenexperten bei allem hin und her mehr Kapital vernichten, als sie erwirtschaften und nicht einmal den Index erreichen. Die Propagandatrommel wird dagegen eifrig gerührt, um immer mehr Menschen glaubhaft zu machen, das sie ihr Geld in Zeiten niedriger Zinsen unbedingt in diesen Roulettekessel werfen müssen.
    Der Malachit.

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